Das BVerfG und der Numerus clausus in Medizin
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Viele träumen von einem Medizinstudium und späterem Leben als „Halbgott in weiß“. Bisher war eine Zulassung zu diesem Studiengang ohne Einserabitur oder Wartezeit jedoch undenkbar. Am 19.12.2017 jedoch wurde von den Richtern des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eine Entscheidung zur Vergabepraxis von Studienplätzen im Studienfach Humanmedizin gefällt, das bundesweit zulassungsbeschränkt ist. Die Richter des BVerfG wurden durch Vorlage der Überprüfung der bisherigen Vergabepraxis durch Verwaltungsrichter aus Gelsenkirchen mit der Thematik in Form einer konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs.1 GG betraut.
Bereits in den 1970er-Jahren hat sich das BVerfG mit der Vergabe von Studienplätzen im Bereich Humanmedizin und dem Numerus Clausus beschäftigt. Bis dahin war die Hochschulzulassung ausschließlich Gegenstand der universitären Satzungen. Aufgrund der steigenden Bewerberzahlen wurde das System zunehmend auch verfassungsrechtlich kritisch beobachtet. Die Karlsruher Richter fällten die erste Numerus-clausus-Entscheidung, um mehr Bewerbern eine Zulassung zum Studium zu ermöglichen. Als Folge der gerichtlichen Entscheidung wurde zwischen den Ländern der erste Staatsvertrag geschlossen, welcher einheitliche Kriterien für die Hochschulzulassung und die Ermittlung der Ausbildungskapazitäten sowie die Einrichtung einer Zentralstelle für die Studienplatzvergabe vorsah. Dabei wurden als Auswahlkriterien die Durchschnittsnote der Hochschulzulassung sowie die Wartezeit festgelegt. Bereits damals wurden besondere Zulassungskriterien für die Hochschulen bedacht (z.B. Auswahlgespräche).
Die heutige Ausgestaltung der Hochschulzulassung beruht bundesrechtlich auf dem Hochschulrahmengesetz, das auf Grundlage der früheren Rahmengesetzgebungs-kompetenz des Bundes ergangen ist und fortgilt. Zudem ist sie auf den Staatsvertrag von 2008 gestützt, der durch Landesgesetze in Landesrecht umgesetzt worden ist.
Den Rahmen für die heutige Hochschulzulassung stecken §§ 27ff HRG ab. Daraus ergibt sich, dass jeder Deutsche i.S.d. Art. 116 GG zu dem von ihm gewählten Hochschulstudium berechtigt ist, wenn er den für das Studium erforderlichen Nachweis erbringt, welcher grundsätzlich gem. § 27 Abs. 2 S.1 HRG durch einen Abschluss einer auf das Studium vorbereitenden Schulausbildung folgt.
Die Länder gründeten die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS), seit 2008 die Stiftung für Hochschulzulassung (SfH), welche für die Verteilung von Studienplätzen mit bundesweiter Zulassungsbeschränkung zuständig ist. Diese Vergabe richtet sich nach §§ 31,32 HRG, welche nach Bestimmungen im Rahmen einer Kapazitätsberechnung Studienplätze ermitteln und das dabei anzuwendende Auswahlverfahren vorgeben. Dabei ist vorgesehen, dass in einer sog. Vorabquote bis zu 30% der Studienplätze an Bewerber vergeben werden, für die die Versagung der Zulassung eine außergewöhnliche, insbesondere soziale Härte, darstellen würde, ausländische oder staatenlose Bewerber sowie Zweitstudienbewerber. Die verbleibenden Studienplätze werden zu 20 % an die Abiturbesten vergeben. Dabei wird, solange keine Vergleichbarkeit im Verhältnis der Länder untereinander gewährleistet ist, auf eine Landesquote zurückgegriffen. Dadurch konkurrieren innerhalb der jeweiligen Abiturbestenquote nur Bewerber aus demselben Bundesland.
Weitere 20 % der Studienplätze werden nach Dauer der Zeit seit dem Erwerb der Hochschulzulassung vergeben (Wartezeitquote). Dabei ist der entscheidende Zeitpunkt der Erwerb der Hochschulzulassung und nicht etwa die erstmalige Bewerbung zum jeweiligen Studium. Dabei werden Zeiten eines anderen (Park-) Studiums nicht berücksichtigt.
Die verbleibenden 60% der Studienplätze werden durch – von den Hochschulen selbst durchgeführten – Auswahlverfahren vergeben. Dabei werden in
§ 32 Abs. 3 S.1 Nr. 3 S. 2 HRG exemplarisch einzeln oder kumulativ anwendbare Kriterien für die Vergabe genannt. Bei der Vergabe soll der Grad der Qualifikation nach
§ 27 HRG – also die Zulassung zum Hochschulstudium – maßgeblichen Einfluss nehmen. Die Zahl der Teilnehmer an diesem Auswahlverfahren kann erneut nach dem Grad ihrer Qualifikation, den gewichteten Einzelnoten, welche über die fachspezifische Eignung Auskunft geben, nach dem Ergebnis eines fachspezifischen Studierfähigkeitstests (z.B. durch den sog. Medizinertest), nach der Art der Berufsausbildung oder Berufstätigkeit oder auch dem Grad der Ortspräferenz begrenzt werden. Dieser Möglichkeit wird seitens der Hochschulen häufig nachgegangen.
Im Wintersemester 2017/18 haben 15 Hochschulen lediglich Bewerbungen berücksichtigt, bei denen sie an erster Stelle der Ortspräferenz standen. Weitere Hochschulen haben die Ortspräferenz auf Position eins oder zwei vorausgesetzt. Wieder andere Hochschulen haben starre Abiturnotengrenzen (von 2,3 bis 2,5) angesetzt.
Lediglich elf Hochschulen vergaben ihre Studienplätze ausschließlich anhand der Abiturnote. Von Transparenz bei der Vergabe der Zulassung zum Studium der Humanmedizin kann wohl daher nicht gesprochen werden.
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat dieses gängige Auswahlverfahren nach §§ 31,32 HRG im vergangenen Dezember nun zur verfassungsrechtlichen Überprüfung gem. Art. 100 GG vorgelegt.
Die für ein Studium der Medizin notwendige Mindestnote ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Im Wintersemester 1999/2000 lag die Landesquote aller Länder bei einer Abiturnote von 1,6 bis 2,2. Seit dem Wintersemester 2009/2010 und durchgehend bis zum Wintersemester 2017/18 ist die Abiturnote auf 1,0 bis 1,2 angestiegen. Bei einem schlechteren Notendurchschnitt als 1,5 kommt es nicht mehr zu einer Zulassung in die Abiturbestnotenquote.
Daraus folgt, dass der Bewerber, der gerne Medizin studieren möchte und für 20% der Studienplätze allein aufgrund seiner schulischen Qualifikation nicht in Frage kommt, auf andere Zulassungsmöglichkeiten hoffen muss. Im Laufe der letzten Jahre ist die erforderliche Wartezeit, um über die Wartezeitquote einen Studienplatz zu bekommen, in die Höhe gestiegen. 1999/2000 betrug die erforderliche Wartezeit für einen Studienplatz nur vier Halbjahre, heute bedarf es für einen Studienplatz durch Wartezeit bereits 14 Halbjahre, wobei die Regelstudienzeit für Humanmedizin bei zwölf Semestern liegt. Damit ist die erforderliche Wartezeit für einen Studienplatz länger als das eigentliche Studium. Zudem wird durch eine lange Wartezeit die Zulassung zum Studium nicht gewährleistet. Dadurch wirkt eine zu lange Wartezeit dysfunktional.
In seinem Urteil kritisiert das BVerfG nun, dass die maßgebliche Orientierung der Hochschulen an der Ortspräferenz des Bewerbers sowie die Beschränkung auf ausschließlich sechs Studienortangaben nicht mit den in Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG und
Art. 3 Abs. 1 GG gewährleisteten Rechten vereinbar ist.
Gegenüber der Vergabe der Studienplätze anhand der Abiturbestenquote haben die Richter jedoch keine Bedenken. Vielmehr sehen die Richter kritisch, dass die hochschuleigenen Eignungsprüfungen nicht strukturiert und Standardisierungen nicht sichergestellt sind. Die Zulassung von Bewerbern zur Vergabe nach den hochschuleigenen Verfahren kann zudem nicht anhand der Ortspräferenz begrenzt werden. Zusätzlich kritisieren die Karlsruher Richter, dass die Wartezeitquote in ihrer Dauer nicht begrenzt ist. Damit wird für die Vergabe der 20 % der Studienplätze, welche über die Wartezeitquote vergeben werden, eine Ausuferung der Wartezeit vermieden. Es ist nicht untypisch, dass die Dauer der Wartezeit für eine Zulassung den Zeitraum der Regelstudienzeit überschreitet.
In allein sechs von 35 Hochschulen mit dem Studiengang Humanmedizin wurden die Zulassungen ausschließlich nach Qualifikation für das Studium vergeben. Dabei wurde auf die Bildung von Landesquoten im Auswahlverfahren der Hochschulen verzichtet. Durch diesen Verzicht kommt es zu einer Ungleichbehandlung der Bewerbergruppen aus den verschiedenen Bundesländern, wodurch eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Teilhabeanspruchs der Betroffenen entsteht.
Das BVerfG sieht zudem die Beschränkung der Ortspräferenz auf lediglich sechs Studienorte nicht als verfahrensökonomische Notwendigkeit und stellt damit fest, dass eine Rechtfertigung fehlt.
Die grundsätzliche Zulassung anhand einer Wartequote begrüßen die Karlsruher Richter. Jedoch müsste sie mit den Anforderungen Art. 12 Abs. 1 S.1 i.V.m. Art. 3 Abs.1 GG vereinbar sein. Die Wartezeitquote sei nach dem BVerfG nicht geboten und zudem in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung nicht den verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügend und mithin verfassungswidrig.
Das Urteil des BVerfG zum Mediziner-NC gilt als besonders relevant für kommende Examensklausuren. In einer auf dem Urteil basierenden Klausur kann z.B. in einer konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 GG die Möglichkeit der Länder, die Hochschulzulassung zum Medizinstudium zu regulieren, überprüft werden.
Durch das Urteil des BVerfG wird eine Zulassung zum Medizinstudium nicht leichter zu bekommen sein. Jedoch kannso mehr Transparenz bei der Vergabe und auch eine Gleichbehandlung insbesondere ohne ausufernde Wartezeit geschaffen werden. Mit Spannung darf erwartet werden, wie der Gesetzgeber die Vorgaben aus Karlsruhe umsetzt.
Ann-Kathrin Langanke